Kinder beim Spiel, beim Kräftemessen, wie ertappt blicken sie den Betrachter an. Zwei Mädchen, aufgerüscht und mit Schleifchen im Haar am Strand, sie spielen Pferdchen, eins führt das andere am Zügel. Nur ein Spiel? Oder vielmehr eine Vorahnung? Eine Familie am Sonntagnachmittag im Garten, für den Fotografen posierend. Die Situation wirkt eigenartig vertraut, sie könnte dem eigenen Familienalbum entstammen. Das Übermaß an Idylle erhält dadurch, dass die Szene in ein intensives Pink und Blau getaucht ist, jedoch einen merkwürdigen Beigeschmack. Wirft man einen Blick auf den Titel, wird aus dem subtilen Befremden der Situation gegenüber eine böse Vorahnung. Ist die Idylle nur Illusion? Was verbirgt sich hinter der perfekten Kulisse, hinter dem schönen Schein? Chantal Maquets Bilder stellen Fragen. Eine ganze Menge davon und alle mit einem untrüglichen Gefühl für Problemzonen zwischenmenschlicher Beziehungen. Nachdenklich und provokant, gesellschaftskritisch und mit einem kleinen Augenzwinkern öffnen die farbintensiven Malereien Zwischenwelten.
Denn Chantal Maquet setzt die Welt nicht in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse. Stattdessen fertigt sie Milieustudien an, erfindet eine ganz eigene Art des Genrebildes. Charakteristisch für ihre Bilder ist, dass uns die Motive oft seltsam bekannt vorkommen. Grund hierfür ist die Arbeitsweise der Künstlerin. Ausgangspunkt der Bilder sind Fotos aus dem eigenen Familienalbum oder Flohmarktfunde. Aus diesem reichen Materialarchiv, das im Wesentlichen Fotos der 50er und 60er Jahre enthält, wählt Chantal Maquet intuitiv Bilder, die etwas in ihr ansprechen. Die Motive übersetzt sie in farbintensive Malerei und verleiht den schwarz-weißen Fotografien so ein zweites Leben als chromatische Momentaufnahmen eines Gesellschaftsbewusstseins. Die Transformation in extreme Farbkompositionen setzt dabei inhaltliche Akzente. Durch gezielte bildimmanente Farbklänge, die auf einer systematischen Auswahl von Farben aus dem Farbkreis beruhen, werden Harmonien und Disharmonien erzeugt. Diese verleihen jedem Bild eine spezifische Stimmung, einen eigenen Charakter. Und gleichzeitig bringen sie einen Prozess der Abstraktion in Gang, machen sie uns die zwei Zeitebenen bewusst, mit denen wir es hier zu tun haben. Erst durch die so generierte Distanz ist es möglich, den Bildinhalt unvoreingenommen zu betrachten. Man fühlt sich an den phänomenologischen Imperativ erinnert, der besagt, dass man erst zu den Sachen selbst gehen müsse, um sie zu beschreiben. Chantal Maquet geht diesen Schritt, indem sie zum Kern der Situation vordringt, den sie fast unverändert, jedoch in neuer Gestaltung wiedergibt. Damit gelingt ihr genau das, was der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty 1945 im Werk von Paul Cézanne erkennt und als Analogie zum Unterfangen seiner Philosophie sieht.1 Denn „dieser Maler ist nur von einem ergriffen: von der Fremdartigkeit der Dinge, kennt nur ein einziges Gefühl: das der stets neu beginnenden Existenz.“2 Die einzige wesentliche Veränderung, die die Dinge sowohl bei Cézanne, als auch bei Chantal Maquet erfahren, ist, dass sie betrachtet wurden. Wo Cézanne sich jedoch vor allem mit Fragen des Abbildes und der Form auseinandersetzt und zu einer Malerei findet, die sich zunehmend vom Realismus entfernt, geht es Chantal Maquet um die Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene.
Die Auseinandersetzung mit Rollenbildern und Klischees, mit den Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft, mit Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, zieht sich als roter Faden durch das Werk der in Luxemburg geborenen und in Deutschland lebenden Künstlerin. Ihr Studium schloss sie mit einem Buchprojekt über ihre Großmutter ab, das sich intensiv mit Frauenbildern beschäftigt. Anstoß des Projektes war der Fund einer Mappe mit Briefen, welche die Großmutter über Jahrzehnte hinweg geschrieben hatte, alter Fotoalben und einiger Stunden Filmmaterial.3 Anhand der bewegten Familiengeschichte sah sich die Künstlerin mit Gedanken konfrontiert, die sie sich zuvor in dieser Intensität nicht gemacht hatte. Denn die Erwartungen und Ansprüche, mit denen sich die Großmutter zu Beginn des 20. Jahrhunderts konfrontiert gesehen hatte, waren ganz andere, als die an die Enkelin gestellten, der Weg zur gesellschaftlichen Identität einer, der durch wesentlich mehr Steine und weniger Freiheiten gekennzeichnet war. Oder doch nicht? Wie sehr hat sich die Rolle der Frau im Wechsel der Generationen geändert?
In einer ähnlichen Zeit wie die Großmutter lebte eine junge Französin, die sich mit der ihr zugeschriebenen Rolle ganz und gar nicht abfinden wollte. Etwa 1948 begann sie darüber zu schreiben, wie es ist, als Mädchen in einer Gesellschaft aufzuwachsen, die ganz spezifische Vorstellungen davon pflegt, wie ein Mädchen zu sein hat.4 Und einen goldenen Käfig baut, in welchem das Mädchen sich schön anziehen darf, Eigenständigkeit aber nicht gefragt ist. Den schönen Schein gesellschaftlicher Idylle und die Idee der Frau als Hausfrau und Mutter hinterfragt jene junge Französin, Simone de Beauvoir, eine der Pionierinnen der Frauenbewegung, radikal. 1949 erschien ihr Buch Das andere Geschlecht, dessen Wirkung einem Schock gleichkam. Der Leitgedanke dieses Buches ist, dass das Leben eines Menschen entscheidend dadurch geprägt wird, ob er als Junge oder als Mädchen aufwächst. De Beauvoir spricht vom „Mythos der Weiblichkeit“ und meint damit die Vorannahmen und gesellschaftlichen Erwartungen, die die Frau als Individuum in ihrer Freiheit einschränken.5 Ein weiteres Buch von Simone de Beauvoir, der 1966 erschienene Roman Les Belles Images, ist titelgebend für eine Ausstellung, die Chantal Maquet 2014 in der Galerie des Frappant e.V. in Hamburg Altona zeigte. Les Belles Images ist zum einen ein Spiel mit den Erwartungen des Betrachters. Doch die „schönen Bildchen“ lassen sich nicht auf ihren malerischen Aspekt reduzieren. Im Gegenteil: die Ausstellung greift den Inhalt des Romans direkt auf, der ein Bild der wohlhabenden Pariser Gesellschaft der 60er Jahre mit all ihren Klischees und Missständen zeichnet.6
Die Verhältnisse der Geschlechter, die Biedermeier-Atmosphäre einer scheinbar modernen Gesellschaft und der distanziert-kritische Blick auf den Auftritt der theoretisch emanzipierten Frau, sind auch Thema der Bilder, die in diesem Katalog gezeigt werden. Doch weitet sich die Bestandsaufnahme zunehmend in Richtung des generellen Miteinanders und Nebeneinanders. In den eingangs beschriebenen Arbeiten geht es um Fragen der Identitätsfindung und die Dynamiken hinter dem Familienidyll, welches die gesellschaftlichen Spannungen in Form eines Mikrokosmos widerspiegelt.
Ein sinnlich-räumliches Bild der eigenen Identität und unserer Existenz als Teil eines großen Netzes aus Verwandtschaften zeichnet die Installation verwandt und verschwägert. Als dreidimensionaler Stammbaum führt sie vor Augen, dass die eigene Identität nicht aus dem Nichts entsteht, dass wir vielmehr Teil eines großen Gespinstes sind. Es gibt ein Davor und ein Danach, ein Nebeneinander und mit jeder Hochzeit eine potentielle Verdopplung des Stammbaumes. Visuell eindringliche Installationen, Objekte und Videoarbeiten machen einen nicht zu unterschätzenden Teil des Gesamtwerkes von Chantal Maquet aus. Mit überraschenden Formfindungen erschafft sie auch in diesen Medien Zwischenwelten, die durch Nachdenklichkeit und Humor noch lange im Gedächtnis nachhallen.
Im Bereich der Malerei dagegen sind es die intensiven Momente und die unterschwellige Spannung im Bild, die einen lange vor den Arbeiten verharren lassen. Kräftemessen zeigt zwei Kinder, die mit einem Expander-Fitnessband im wahrsten Sinne des Wortes ihre Kräfte messen. Im ersten Augenblick liegt es nahe, die Szene als Moment der Geschwisterliebe zu verstehen. Die wie ertappt wirkenden Blicke lassen jedoch ahnen, dass nicht alles hasenrein ist. Wird das ältere Kind gleich loslassen und das kleinere mutwillig zu Fall bringen? Wurde es in genau dieser Absicht durch den Auftritt des Fotografen und letztlich unseren Auftritt als Betrachter aufgehalten? Und ist dieses kindliche „Kräftemessen“ möglicherweise sogar ein Abklatsch des gesellschaftlichen Miteinanders, das die beiden als Erwachsene erwarten wird?
Auch Kinderspiel 3 spielt mit dem Moment subtilen Befremdens. Die beiden Mädchen am Strand, in niedlichen Kleidchen und mit Schleifchen im Haar, wirken wie der Inbegriff des Familienidylls. Doch auch hier weht eine leise Vorahnung über den, scheinbar Freiheit bietenden, Strand hinweg. Das kleinere Mädchen wird durch die Zügel des Pferdchen-Spiels in der Bewegung gebremst. Eine Vision der Rolle, die ihr später zugedacht sein wird? Doch liegt nicht nur vor den Mädchen ein Weg, der durch Erwartungen geprägt ist. Auch die Brüderpaare in Brüder (mit Krawatte und kurzer Hose) oder Brüder (auf dem Sofa) sehen sich früh mit gesellschaftlichen Normen und der Suche nach der eigenen Identität konfrontiert. Scheinbar beschützend legt der größere den Arm um den Kleineren. Er hat ihn fest im Griff – Liebe oder Konkurrenzkampf? Auch hier eine Zwischenwelt der Deutungen vor dem Hintergrund der Distanz von damals und heute. Wie haben wir unsere Kindheit erlebt? Und wie gehen wir heute miteinander um? Welche Identität haben wir uns angeeignet und wie frei waren wir in der Wahl dieser Identität? Leben wir wirklich miteinander? Oder doch nur nebeneinanderher?
Ein eindrückliches Beispiel für das gegenseitige Befremden und die Distanz, die ein „Dazwischen“ generiert, das für die Protagonisten unüberbrückbar scheint, ist Zehn vor eins, ein leerer Stuhl. Die radikalen Farben, das leuchtende Orange, das intensive Gelb, das knallige Pink und das strahlende Hellblau, tauchen die abgebildete Situation in das Licht eines surrealen Traumes. Surreal ist auch das Verhalten der Personen. Sie wirken wie drapierte Staffage, eine Interaktion findet nicht statt, eher scheint Befremden über die Anwesenheit der anderen zu herrschen. Der Titel tut seinen Teil, um zur Verwirrung beizutragen. Er lenkt den Fokus auf den leeren Stuhl, der auch in der Komposition an zentraler Stelle steht. Dieser holt uns als Betrachter insofern ins Bild hinein, als wir uns fragen müssen, ob der Platz für uns freigehalten wurde. Wollen wir wirklich Teil dieser Gesellschaft sein?
Das Spiel mit den Titeln ist maßgeblich für alle Arbeiten von Chantal Maquet. Teils lassen sie den Bildinhalt in einem anderen Licht erscheinen, teils erweitern sie den Bedeutungshorizont und setzen humorvolle Pointen. Mit Verweile doch, du bist so schön [Abb. 59] könnten zum einen die weiblichen Strandschönheiten gemeint sein. Zum anderen ist gerade dieses Zitat mit eines der bekanntesten aus Goethes Faust. „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!“ spricht Faust zu Mephistoteles und besiegelt damit sein eigenes Schicksal. Wird es den Frauen am Strand genauso ergehen, sobald sie diesen Satz zu hören bekommen? Werden sie dann in Fesseln gelegt? Oder spielt der Titel auf die Flüchtigkeit des Augenblickes an und die Problematik, die für viele Frauen mit dem Altern einhergeht? Magie des Augenblickes, platte Anmache oder Schönheitswahn? Die Deutungshorizonte gehen weit auseinander und vereinen in Chantal Maquets Bildern nicht selten sogar gegensätzliche Pole.
Gerade die Deutungsvielfalt trägt das ihrige zu den „Zwischenwelten“ bei, in denen die Situationen von Chantal Maquets Bildern angesiedelt sind. Sie oszillieren zwischen damals und heute und regen gerade durch den teils befremdlichen Blick auf die dargestellten Szenarien, der durch die Farbgebung maßgeblich gefördert wird, dazu an, das Gesehene zu reflektieren und in Bezug zur eigenen Wirklichkeit zu setzen.
Anne Simone Krüger
1. Vgl. Sarah Bakewell: Das Café der Existentialisten. Aus dem Englischen von Rita Seuß. München 2016, S.268.
2. Maurice Merleau-Ponty: Der Zweifel Cézannes, In: Das Auge und der Geist, Philosophische Essays, Hamburg 2003, S.3-27, S.16.
3. Vgl. Künstlergespräch am 12. Januar 2014 mit Ricarda Bross von Bräuning Contemporary. In: Chantal Maquet: Les Belles Images. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Frappant Galerie, Hamburg, vom 4. Januar bis 12. Januar 2014, Hamburg 2014.
4. Vgl. Sarah Bakewell: Das Café der Existentialisten. Aus dem Englischen von Rita Seuß. München 2016, S.237f.
5. Vgl. Ebd.
6. Details hierzu finden sich in: Chantal Maquet: Les Belles Images. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Frappant Galerie, Hamburg, vom 4. Januar bis 12. Januar 2014, Hamburg 2014.