Die eigene Familiengeschichte steht am Anfang des medienübergreifenden Werks der luxemburgischen Künstlerin Chantal Maquet. In frühen Zeichnungen hielt sie Szenen aus dem Leben ihrer Großeltern fest, die in den 1950er-Jahren in der ehemaligen Kolonie Belgisch-Kongo ansässig waren. Daraus entstand als Abschlussarbeit ihres Studiums ein Buch. Beim Eintauchen in die großelterliche Biografie schöpfte Maquet aus privaten Notizen, Foto- und Filmmaterial. Vom persönlichen Umfeld ausgehend begab sie sich auf die Spuren kollektiver Formen und Auswirkungen des Kolonialismus und Rassismus: Themen, die bis heute das Werk der Künstlerin, die Anfang der 2000er-Jahre nach Hamburg zog und dort seit 2017 ihr jetziges Atelier im Künstlerhaus Wendenstraße innehat, durchwirken.
Fotografien aus dem Familienalbum und von Flohmärkten sowie selbstaufgenommene Bilder dienen Maquet weiterhin als Vorlagen für eine intensive Beschäftigung mit verdrängter und verdeckter Historie, der Rolle des Individuums in der Gruppe und der Rolle der Frau in der Gesellschaft. „Wie kann ich mich im Weltgeschehen wiederfinden?“: So lautet eine Grundfrage, die ihre gesamte Produktion durchzieht. Selbst- und Außenwahrnehmung im Spiegel von Portraits und die Behausungen, in denen wir uns heimisch machen, sind wiederkehrende Sujets. Die Analyse von Welt und Wirklichkeit verlaufen über die Wechselbeziehungen zwischen gestern und heute, dem individuellen und dem kollektiven Dasein, den äußeren Erscheinungen und den dahinterliegenden Wahrheiten.
Die Normiertheit von Lebensentwürfen, die unsere (westlichen) Gesellschaften im Wandel der Zeiten geprägt haben und immer noch prägen, kristallisieren sich in Maquets Darstellungen von Wohnanlagen und Eigenheimen, die in verschiedenen Werkgruppen der Künstlerin im Zentrum stehen: In diesen architektonischen „Hüllen, den Verpackungen von Menschenleben“, wie die Künstlerin sie nennt, verschanzen sich deren Bewohner:innen gegen vermeintliche Angriffe von „außen“. Die feministisch-kritische Beleuchtung sexistischer Rollenklischees, die das patriarchale Frauenbild auch jetzt noch kulturübergreifend bestimmen, ist ein weiterer wesentlicher Strang ihres künstlerischen Engagements. Ebenso die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Aufbrechen und Ankunft, Beheimatet- und Zuhausesein im Kontext von Migration und Entwurzelung.
Die Visualisierung von Ambivalenzen und Widersprüchen ist ein roter Faden ihres ästhetischen Ansatzes, der auf das Verborgene und Ausgeklammerte gleichermaßen verweist wie auf das, was sich an der Oberfläche der Dinge, den Klischees des alltäglichen Lebens offenbart. Der Bogen ihrer Mittel spannt sich von der Malerei, die im Mittelpunkt ihres Œuvres steht, über zeitbasierte Medien, performative und interaktive Formate und raumgreifende Installationen bis hin zur Graphic Novel, die sie zu ihren Wurzeln zurückbringt: zur Untersuchung der langen Schatten des Kolonialismus, die Maquet von ihrem Heimatland Luxemburg aus in die weiter gefasste Historie Europas und des globalen Südens ausdehnt. Dabei widerlegt sie die geläufige Annahme, „Das hat ja nichts mit mir zu tun“, bildstark als Ausblendung und Verharmlosung eines tiefgreifenden brutalen Geschehens mit andauernden gesellschaftspolitischen Folgen.
Malerei
Eine rätselhafte Unterströmung durchzieht die Malerei von Chantal Maquet. Meist seriell arbeitend, erforscht die Künstlerin ihren jeweiligen Gegenstand im Spiel von Wiederholungen, Variationen und Abweichungen: eine Annäherung an historische und aktuelle Realitäten aus dem persönlichen oder weitergefassten Umfeld, die mit verschiedenen Formen der Verfremdung einhergeht. Dazu gehört die irisierende, von starken Komplementärkontrasten bestimmte Farbpalette, ein gefährlich verführerisches Leuchten, das den Bildinhalten oft zuwiderläuft. Auch die Überschneidung von Vergangenheit und Gegenwart, Figuration und Abstraktion, dem Idyllischen und dem Unheimlichen sowie anderen gegenläufigen Stimmungslagen und Kompositionsprinzipien trägt dazu bei. So haben Maquets Figuren und Architekturen, Gruppendarstellungen und Einzelbildnisse, urbane und ländliche Szenen, vielfach nach fotografischen Vorlagen umgesetzt, zugleich größte Präsenz und etwas Entrücktes.
Malerei ist für Maquet ein Instrument der Erkundung und der Wahrnehmungsvertiefung im heimischen Environment ebenso wie auf Reisen durch die Welt sowie durch die persönliche und kollektive Geschichte. Ob die Künstlerin mit ihrer Malerei in die Historie eintaucht, in Vorstadtparadiese, in die Dynamik zwischenmenschlicher Interaktionen oder in die gesellschaftspolitischen Rahmungen, in denen sich weibliche Rollenmuster und misogyne, rassistische, oder anderweitig ausgrenzende Verhaltenskodexe verfestigen: das durchgängige Sujet der Künstlerin ist der Blick hinter alltägliche Erscheinungen und die Thematisierung der zeitübergreifenden Auswirkungen der Vergangenheit auf die Jetztzeit. Nur im genauen Erkennen dessen, was ist, liegt die Möglichkeit einer Befreiung aus kulturellen Klischees und Engführungen. Maquet setzt die Malerei als Medium der Erkundung ein, das die Schattenseiten der Wirklichkeit ans Licht holt.
Performance/Zeitbasierte Medien/Räume
Eine junge Frau im langen, spitzenverzierten Gewand zerdrückt langsam, absichtsvoll, zwei rohe Eier in der Hand. Chantal Maquet tritt in ihrer Video-Performance What Will Be (2013) selbst als Akteurin im Brautkleid ihrer Mutter auf. Es geht darin, wie häufig im Werk der Künstlerin, um eine kritische Reflexion weiblicher Rollenzuschreibungen. Die zerplatzen Eier verweisen auf die Weigerung, dem traditionellen Weg über Heirat und Mutterdasein zum Goldenen Käfig ökonomischer Abhängigkeit in männerdominiertem Ehemodell zu folgen. Maquet hat diesen Zwinger aus goldlackiertem Maschendraht in Gestalt des von ihr getragenen Brautkleids – beziehungsweise einer kopflosen Kleiderpuppe – geformt. Er ist Teil einer Rauminstallation, die die Künstlerin unter dem ironiehaltigen Titel Les Belles Images („Die schönen Bilder“) 2014 in Hamburg zeigte. Neben Video und Skulptur gehörten dazu noch das Wandobjekt Eiloser Zyklus (2013) aus sonnenradartig angeordneten, leeren Eierkartons. Eine Gruppe von Gemälden stellte Mädchen und Frauen in verschiedenen Konstellationen und bei diversen Tätigkeiten dar: Sekretärinnen im Büro, Frauen mit und ohne Kinder beim Plaudern bei einer sommerlichen Nachmittagsgesellschaft, bei der Arbeit und in der Freizeit. Die feministische Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir ist ebenfalls präsent, während gleichförmige Häuser einer Vorstadtsiedlung eine normierte Lebensidylle suggerieren: goldene Käfige anderer Art.
Die Vorlagen zu den gemalten Szenen entspringen weitgehend Fotoalben aus früherer Zeit. Die Referenzsysteme, in die sie eingebunden sind, bleiben weiterhin relevant. Die eigene Herkunft und die Pfade, die andere vor ihr zurückgelegt haben und die sie selbst als Frau und Künstlerin in die Zukunft tragen, sind wiederkehrende Themen in Maquets Werk, die teils unter Einbeziehung ihrer Malerei auch in performativen, zeitbasierten und installativen Formaten zum Tragen kommen. Im Video Der lange Weg (2015) durchläuft die Künstlerin in rotem Partykleid und roten Pumps einen Wald und macht sich mit einem Laubblasegerät bewaffnet auf dem blätterübersäten Boden eine steingepflasterte Bahn frei. Die Darstellung von Familienstrukturen ist wiederum Gegenstand eines Stammbaums (verwandt und verschwägert, 2017), der sich als Netzwerk aus roten Fäden und Metallröhrchen zum weitverzweigten Raumgeflecht ausbreitet: Teil von Maquets Ausstellung uns verbindet nichts (Dudelange, 2017), die anhand von Geschwisterverhältnissen und –konflikten die Komplexität verwandtschaftlicher Bande beleuchtete.
Im Wechselspiel zwischen Stillleben und Bewegtbild entfaltet sich die Serie von Blumenportraits, Stay Gold (2019), die im konstanten goldenen Rahmen ständig die Farbe wechseln – eine mit Digitaltechnik und LED-Leuchtmitteln erzeugte Abfolge des Farbkreises. Stillleben anderer Art, beruhend auf Malereien teils welker, einsam dem Licht entgegenwachsender Topfpflanzen, bilden den visuellen Kern des Raum-Sound-Ensembles SOMA DIS TANZ. Entstanden 2020/21 auf der Höhe der Pandemie, wird darin die Frage nach Nähe und Distanz gestellt, die während der Covid-Krise zum zentralen Feld zwischenmenschlicher Spannungen und erzwungener Abstände wurde: stimmliche Äußerungen dazu erklangen beim Herantreten an die Bilder aus dem Off. Interaktivität ist ein wiederholtes Mittel der Künstlerin, die Betrachter:innen als Mitwirkende einzubeziehen. So auch in der Video-Installation One Dog and Tennisballs (2022), eine Montage aus 69 Clips, in der Maquets Hund Diego auf das Werfen unterschiedlich vieler Tennisbälle reagiert: bis hin zum Umkipppunkt, an dem das Spiel in rigide oder kämpferische Verhaltensmuster umzuschlagen droht. Geschwindigkeit und Abfolge der Filmsequenzen konnte das Publikum selbst bestimmen: ein gezielter Ausbruch aus dem Korsett des linearen Erzählens und Verweis darauf, dass jeder Mensch die Fähigkeit hat, Verläufe eines Geschehens – im Kleinen wie im Großen – durch eigenes Handeln zu verändern. Dass man indes der eigenen Geschichte nicht entfliehen kann, macht die Künstlerin in ihrem aus Found Footage ihrer Großeltern montierten Video-Essay Das Erbe annehmen (2021) deutlich. Hier setzt sich Maquet erneut mit dem kolonialen Erbe ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander und wirft dabei einen Fokus auf die größere Historie und Gegenwart von Rassismus, Gewalt und Ausgrenzung in den heutigen westlichen Gesellschaften. Durch Verdrängung und Ausblendung lässt sich dieses „Erbe“ nicht überwinden. Vielmehr gilt es genau hinzusehen und das Ausgeklammerte in den Blick zu nehmen: Dazu fordert die Künstlerin in ihrem Werk immer wieder auf.
Belinda Grace Gardner
Veröffentlicht mit der Unterstützung des Nationalen Kulturfonds, Luxemburg