Zwischen Individuum und Kollektiv, Peripherie und Zentrum:
Chantal Maquets architektonische Gesellschaftsportraits
Identische Mehrfamilienhäuser, gesäumt von menschenleeren Gehwegen und elektrischen Oberleitungen, reihen sich an stiller Straße unter windverwehtem Wolkenhimmel. Karge, niedrige Bepflanzung weist auf ein Neubaugebiet irgendwann im Vorfrühling oder Spätherbst. Diffus auch die Tageszeit und der Ort, der überall und nirgends sein könnte. Die unsichtbaren Bewohner scheinen zur Arbeit unterwegs oder in ihren Behausungen verborgen zu sein. Nichts rührt sich in dieser leblosen Siedlung zwischen Stadt und Land. Ein einsames Auto ist das einzige Lebenszeichen: Das Design des Wagens gibt einen Hinweis darauf, dass die im Grunde zeit- und ortlose Anlage Mitte des 20. Jahrhunderts errichtet wurde und somit längst historisch geworden ist. Mit dem Bild Vorstadtparadies (2013), Teil ihrer Hamburger Ausstellung Les Belles Images im Januar 2014, startete Chantal Maquet ihre künstlerische Beschäftigung mit (sub-)urbaner Bebauung: ein Motivkomplex, der aus ihren Portraits von Einzelpersonen und Gruppen hervorgegangen ist.
Die in Luxemburg geborene, in der deutschen Metropole Hamburg lebende Malerin setzte damit ihr andauerndes Projekt einer kritischen Beleuchtung der gesellschaftlichen Dynamiken fort, denen individuelle und kollektive Verhaltensmustern (zunächst mit spezifischem Blick auf weibliche Rollenklischees und deren Durchbrechung) unterliegen. Ihre Serien zum Thema Architektur, die seit 2014 parallel zur Darstellung von Einzelpersonen und Gruppenkonstellationen entstehen, sind unter dem Oberbegriff Topos (in dem „Ort“, „Gegend“ und „Gebäude“ mitschwingt) zusammengefasst. Dienten Maquet zuvor, wie auch in Vorstadtparadies, in erster Linie Flohmarktfundstücke oder Schnappschüsse aus dem eigenen Familienalbum als Vorlagen für ihre Kompositionen, so setzt sie mittlerweile selbst aufgenommene fotografische Dokumentationen persönlich erlebter Wirklichkeit ein.
In Vorstadtparadies rückt die Künstlerin eine ent-individualisierte, gleichsam generische Lebensform in den Fokus, die in den gleichartigen Gehäusen einer frugalen, wie am Reißbrett geplanten „Schlafstadt“-Idylle Gestalt annimmt. Solche Vorstadt-(anti-)Paradiese hat man schon oft gesehen: In dieser oder ähnlicher Form treten sie weiterhin in Erscheinung. Ihre erste Bildfolge der Topos-Reihe widmet sich unter dem Titel Utopien von Gestern der Nachkriegsbebauung in Hamburg, die – wie auch andernorts im zerstörten Deutschland – im Zeichen einer auf Fortschrittlichkeit setzenden urbanen Wiederbelebung auf innovative Ansätze der Moderne zurückgriff. In dieser 10-teiligen Serie (erstmals gezeigt im September 2014 zum Tag des Offenen Denkmals im Auditorium der Hamburger Deichtorhallen) bildet Maquet die aus heutiger Sicht oft abweisenden Beton-Burgen und brutalistischen Hochhausfassaden des architektonischen Aufbruchs der 1950er und 1960er Jahre nicht lediglich ab. Sie begibt sich vielmehr auf die Suche nach Zeichen und Restbeständen der Utopien von einst, die den Bauwerken – für nachfolgende Generationen kaum noch sichtbar – eingeschrieben sind.
In starken Farben und Kontrasten ruft sie deren ursprüngliches, zukunftsweisendes Potenzial wach, großstädtischem Leben und Arbeiten neue Form(en) zu geben. Neben Büro- und Hochhaus-riegeln tauchen auch die Apartmentblöcke auf, die für trabantenstädtische Siedlungen charakteristisch geworden sind. Ursprünglich sollten sie moderne, pflegeleichte Ausstattung und ein Wohnen im Grünen für möglichst viele erschwinglich machen. Heute stehen sie für die Monotonie und Fantasie-losigkeit kollektiver Bebauung an der Peripherie, die indes längst im Zuge einer allgemeinen „Deurbanisierung“ und „polyzentrisch transformierten regionalen Raumstruktur“1 um ihre eigenen suburbanen Zentren kreist.
Gelebte Utopie: Ausbruch aus der Gleichschaltung des freien Ausdrucks
Ein Aufenthalt in Kuba 2015 brachte die 24-teilige Werkreihe Gelebte Utopie (2016) hervor, die einen städtischen Gegenentwurf zur vorstädtischen Kollektivbehausung vor Augen führt. Hier nun leuchten individuell gestaltete Fassaden in bunter Vielfältigkeit vor bleiernem grauem Grund. Letzterer deutet die institutionalisierte Unfreiheit der kubanischen Gesellschaft an, die seit Jahrzehnten durch ein repressives Ein-Parteien-System reglementiert wird. Die von Maquet im lakonischen Stil der fotografischen Hausansichten in Every Building on the Sunset Strip (1966) des US-amerikanischen Konzeptkünstlers Edward Ruscha (*1937) Stück für Stück wie beim Durchschreiten einer Straße festgehaltenen Gebäude, die jeweils mit ihrer Hausnummer bezeichnet sind (es kommen nur Häuser mit geraden Zahlen in der Serie zum Einsatz), durchbrechen in ihrem Variationsreichtum die systemimmanente Gleichschaltungspolitik der kubanischen Regierung.
Die erstmals auf eigenen Aufnahmen der Malerin basierenden Bilder zeigen die Vorderfronten von Einzelhäusern, deren Nachbarhäuser teils nur fragmentarisch erkennbar sind, und die Fassaden heterogener Häuserreihen in leuchtenden Rot-, Blau-, Gelb- und Orangetönen. Treppen, Erker und Balkone verändern sich von Haus zu Haus, ebenso die Höhe und Breite der Gebäude und die ornamentalen Gitter vor Fenstern und Verandas. Nur selten sind Menschen in die Darstellungen einbezogen: Die Individualität ihrer Lebensentwürfe manifestiert sich implizit in den gestalterischen Details der Architekturen. Maquet zeigt diese weitgehend zur mittäglichen Ruhezeit, wenn sich die kubanische Bevölkerung aufgrund der starken Hitze bevorzugt in Innenräumen aufhält.2
Der Außenblick auf die Behausungen ist bewusst gewählt und verleiht diesen eine Abstraktheit, die an die fotografischen Typologien industrieller Bauten von Bernd und Hilla Becher (1931–2007; 1934–2015) denken lässt.3 Fast ausschließlich an einem Ort in Kuba gesammelt, stehen die Ansichten der Häuser für einen gleichsam allgemeinen topografischen Stil, der in seiner Variationsvielfalt wiederum, wie die Künstlerin auf ihrer Reise durch Kuba feststellte,4 landesspezifisch ist. In der kollektiv-individuellen Abweichung manifestiert sich der gesellschaftliche Befreiungsschlag gegen staatliche Repression. Die „gelebte Utopie“ äußert sich hier nicht im (gescheiterten) sozialistischen Projekt Kubas, sondern in der alltäglichen Resistenz der Bevölkerung, die mit Fantasie gegen Nivellierung des freien Ausdrucks eintritt.
Nachts (vor der Tür): Licht- und Schattenspiele in den Vororten
Mit dem Blick der Fremden näherte sich Chantal Maquet 2017 im Zuge eines Gastaufenthalts im Schloss von Burglinster, einem historischen Dorf in Luxemburg, den baulichen Manifestationen des Wohnens in ihrer eigenen Heimat. Hier griff sie das Thema des „Vorstadtparadieses“ aus ihrer früheren, auf einer Fotografie vom Flohmarkt beruhenden Komposition nochmals in der Gegenwartswirklichkeit auf und begab sich mit ihrer Kamera auf nächtliche Recherchen in Ortschaften in der Gemeinde von Burglinster, spezifisch in Eigenheimsiedlungen, in denen sich Einzelhäuser hinter akkuraten Hecken, flachen Mauern und Zäunen verbergen. Die daraus entstandene, 24-teilige Serie Nuets (virun der Dier) [Nachts (vor der Tür)] umfasst Ansichten von Häusern neben sparsam beleuchteten, leeren ländlichen Straßen, Kreuzungen und Bushaltestellen, wo niemand wartet und keiner unterwegs ist. Die Malerin verwendete als Vorlagen für ihre jüngste Werkreihe aus ihrem Topos-Zyklus Schwarz-Weiß-Fotos, deren Motive sie auf der Leinwand in geheimnisvolle, von irisierenden Farben intensiv leuchtende Szenen umsetzte.
Die aus der nächtlichen Dunkelheit hervorstrahlenden blauvioletten und roten Farbtöne und das Spiel mit Licht und Schatten verleiht den Ansichten eine fast filmische Qualität und eine subtile Spannung. Die von diesigem Lampenlicht sparsam beleuchteten Landstraßen, die sich einsam ins Nichts erstrecken oder sich um Kurven herum in toten Winkeln verlieren, unterstreichen die eigenartig entrückte Atmosphäre der wie im Schlaf befindlichen Häuser, deren Bewohner unsichtbar bleiben, als seien sie ausgeflogen oder in den Tiefen der Interieurs verschwunden. In ihrer hermetischen Abgeschlossenheit und Zurückgezogenheit wirken die Gebäude wie private Bastionen, die sich scheinbar jeder Außeneinwirkung gegenüber verschließen: „In den zerstreuten Einfamilienhaussiedlungen entwickeln sich sozial ghettoisierte, von großstädtischen Problemen gesäuberte Lebenswelten der weißen Mittelschichten, die vor den urbanen Problemen in die Region geflohen sind. Hier wird noch einmal die traditionelle Idee von der Familie als Zentrum der Gesellschaft praktiziert.“5
Doch selbst das aus Fenstern hervordringende Licht lässt nicht mit Sicherheit auf menschliche Anwesenheit schließen: Es könnte eine Attrappe sein, um ein leeres Haus vor Einbrechern zu schützen. Der (Licht-)Schein könnte trügen, und die Gebäude nur mehr leere Hüllen sein, die eine tiefgreifende Abwesenheit lebenshaltiger Interaktion signifizieren. Das „Heimliche“ (oder Anheimelnde) kippt ins Unheimliche, während Leere an die Stelle von Substanz, der große Schlaf, die starre Ruhe, an die Stelle des lebendigen Da-Seins und Austausches tritt.6 Maquets Darstellungen der suburbanen häuslichen Ordnungstrukturen, die in ihrer heckengeschützten sozialen Exklusion das Gegenteil der kollektiv angelegten Utopien von Gestern suggerieren, die in Apartmentblöcken jenseits der großen Städte Form annahmen, hat System: Das Modell individueller Traumerfüllung im maßgeschneiderten Eigenheim ist eine kollektive Utopie, die als „Vorstadtparadies“ typologisierbar ist und einer – wenn auch exklusiveren – gesellschaftlichen Norm unterliegt.
Die Künstlerin hat ihre Feldforschungen im Auto und mit Hund unternommen. Verdächtig hat sie sich trotzdem gemacht, als sie ihre Beobachtungen in der Dunkelheit für die spätere malerische Umsetzung fotografierte. Das Moment des Misstrauens, das ihr von einzelnen Bewohnern entgegengebracht wurde, wird auch in ihren Bildern spürbar, die ebenjene Ambiguität ausstrahlen, die Freud zwischen dem „Heimlichen“ und dem „Unheimlichen“ als ineinandergreifende, reziproke Dynamik thematisiert.7 Maquets Nacht- und Nachbilder des peripheren, vorstädtischen Lebens strahlen Ruhe und eine poetisch-kontemplative Atmosphäre aus und sind doch auch wie Schauplätze eines Vakuums, das dem vitalen, organischen Chaos des Lebens eine Kulisse entgegenstellt, in der alles Störende ausgeklammert und in ein ordnendes Konstrukt eingebunden wird.
Die Bildsprache der Künstlerin ist indes keine sachlich repräsentierende: Ihre Kompositionen verbinden die Stimmungslage alltäglicher Erfahrungswelten, die über die Luxemburger Verortung hinaus gängige westeuropäische Bau- und Lebensweisen evozieren, die Anmutung der surrealen Nachtbilder von René Magritte (1898–1967) sowie die mysteriöse Aura der Schattenwürfe von Giorgio de Chirico (1888–1978) – beides Künstler, die Maquet inspirierten, ohne sich unmittelbar in ihren Arbeiten ästhetisch niederzuschlagen.8 Dass die malerischen Ortsbegehungen und Ortsbeschreibungen, die in den Werken ihrer Topos-Reihe zum Tragen kommen, simultan ortsspezifisch und jenseits fester Lokalisierungen Gültigkeit haben, ist insofern kein Widerspruch. Vielmehr geht es um ein Wechselspiel zwischen den Orten und Zeiten, zwischen dem Kollektiv und dem Individuum, zwischen der individuellen Vorstellung und dem gesellschaftlichen Entwurf.
Ein großformatiges Diptychon von Chantal Maquet, das ebenfalls 2017 im Zuge ihres Arbeitsstipendiums entstanden ist, breitet den Ort Burglinster von der erhöhten Warte eines Felsvorsprungs im Wald nebst dem linkerseits auf gleicher Ebene befindlichen Schloss vor den Augen der Betrachterin, des Betrachter aus: ein nächtlicher Panoramablick, der einen dicht bebauten Ortskern vor Augen führt, der sich hinter opulenter, türkisfarbener Vegetation eröffnet. Ein Leuchten liegt über der Kirche, den Häusern, den Wegen. Hier ist noch alles eng beieinander geborgen und ineinander verwoben.
Die Vorgärten mit ihren Hecken und Zäunen liegen samt den dazugehörigen Vorstadthäusern in der Ferne, jenseits des Horizonts. Die Künstlerin hinterfragt in ihrer Gegenüberstellung die Lebensentwürfe, die unsere Gesellschaft im Wandel der Zeiten geprägt haben und weiterhin prägen, und die in heutiger Zeit in Gestalt architektonischer „Hüllen, den Verpackungen von Menschenleben“ 8 oftmals als Isolation gegen Integration und gegen heterogene Gemeinschaften gesetzt werden. Medientheoretiker Paul Virilio hat von einer „Vorstadt der Zeit“ gesprochen, „die von den Tätigkeiten freigeräumt ist, wo jeder gezwungen wird, sich in ein Privatleben zurückzuziehen, das eher einem Verlust des Lebens gleicht“.9 Das Leben kennt keine Grenzen, keine Zäune, keine Demarkierungslinien. Es findet dort statt, wo Visionen Gestalt annehmen. Diese sind in den Bauten ebenso aufgehoben wie in deren Durchbrechungen. Chantal Maquet lässt in ihren Bildern beides bestehen: die gebaute Utopie einer Gemeinschaft, die ihr Glück im Kollektiv sucht, und die Utopien für ein individuelles Glück, die erst noch entwickelt werden mussen. Damit spannt sie einen Bogen zwischen den Zeiten und Orten, den Bauten und den damit verbundenen Visionen für ein zukunftsweisendes Sich-Heimisch-Machen in der Welt.
Belinda Grace Gardner
1. Vgl. Walter Prigge: Metropolitisierung. Zum Strukturwandel der europäischen Stadt, in: Gereon Sievernich; Thomas Medicus (Hrsg.): Zivilisation. Städte – Bürger – Cybercities. Die Zukunft unserer Lebenswelten, Bd. 4 der Ausst.-Publ. zu: 7 Hügel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts (Martin Gropius Bau Berlin: 2000), hrsg. v. Berliner Festspiele, Berlin 2000, S. 36.
2. Chantal Maquet erläuterte in einem Telefongespräch mit der Autorin am 21. November 2017, dass sie die fotografischen Vorlagen für ihre Häuser-Serie in Kuba spezifisch in der Mittagszeit aufnahm, wenn sich kaum Bewohner auf der Straße aufhielten.
3. Die in gleichbleibender Systematik fotografierten Bildserien des Künstlerpaars Bernd und Hilla Becher unter anderem von Hochöfen und Gasbehältern, Förder-, Wasser- und Kühltürmen dokumentieren einerseits historische Industriearchitektur, und damit eine verschwundene Zeit, verleihen aber auch den anonymen Fassaden ein Gesicht, wodurch diese zugleich zu differenzierten Portraits gesellschaftlichen Wandels werden.
4. Chantal Maquet im Telefongespräch mit der Autorin am 21. November 2017.
5. Prigge, in: Sievernich; Medicus 2000, S. 36.
6. Vgl. zur Ambivalenz des Heimlichen / Anheimelnden und dessen Nähe zum Unheimlichen als Kippfigur: Sigmund Freud: Das Unheimliche (1919), in: ders.: Psychologische Schriften, Studienausgabe Bd. IV, hrsg. v. Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt/Main 1982 [1970], S. 243 ff., insbesondere S. 244f.; S. 250.
7. Vgl. ebd., S. 250.
8. Chantal Maquet im Telefongespräch mit der Autorin am 21. November 2017.
9. Paul Virilio: Die Auflösung des Stadtbildes, in Jörg Dünne; Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt / Main 2006, S. 265.